Interview mit El Puente-Gründer Richard Bruns
Thorsten Montag (Vorstand El Puente e.V.): Richard, bitte berichte uns von den Aktivitäten nach der Gründung des „Arbeitskreises Entwicklungshilfe“ 23. Juni 1969, dem Vorläufer des El Puente e.V. sowie der El Puente GmbH. Was habt Ihr in 1969 und 1970 getan, um den Menschen in den damals noch als Dritte Welt beschriebenen Staaten konkret zu helfen? Welche Schwierigkeiten gab es zu bewältigen? Aus heutiger Sicht mit all ihren Paragraphen und Vorschriften, die es zu beachten gilt, erscheint die damalige Zeit in dieser Hinsicht als eine freie Spielwiese, die vielleicht nicht alles aber vieles ermöglichte. Aber so war es wahrscheinlich nicht, oder?
Richard Bruns (El Puente Gründer): Zunächst einmal haben wir uns als ökumenischer Arbeitskreis Entwicklungshilfe hier in Deutschland eingemischt. Die Bundestagswahl 1969 stand an und der Landesjugendring rief unter dem Motto: „Jugend will Demokraten – keine Autokraten“ zum Engagement der Jugend im Wahlkampf auf. Das haben wir getan.
Der Arbeitskreis Entwicklungshilfe mischt sich ein
Am Dienstag, 16. September hielt der damalige Bundesfinanzminister Franz-Joseph Strauß in der Hildesheimer Sporthalle eine Wahlkampfrede. Als damals aktives CDU Mitglied hatte ich mehrere Einlasskarten für unseren Arbeitskreis besorgt. Wir verteilten in der Sporthalle unser Flugblatt „aktion wahlkampf für die dritte welt“ mit folgenden Gedankenanstößen: „Entwicklungshilfe ist unpopulär! Auch für die christlichen Parteien?“ und Aussagen wie „Entwicklung ist das neue Wort für Frieden“ von Papst Paul VI oder von John F. Kennedy: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit haben wir die Mittel, alle zu ernähren – uns fehlt nur die Bereitschaft zu teilen.“ Auf das Rednerpult von Strauß legten wir einen 6 Punkte Fragenkatalog zur Entwicklungshilfepolitik der Bundesregierung. Doch unser Anliegen wurde von Strauß mit keinem Wort aufgegriffen, ich musste mir sogar Vorwürfe von damaligen Parteifreunden anhören.
Präsent in der HAZ
In der Hildesheime Allgemeinen Zeitung (HAZ) gab es damals samstags das Jugendmosaik. Ich habe dann am 27. September den Leitartikel „Vertrauen der Jugend hat gelitten“ verfasst. Einige Auszüge: „Die jugendlichen Wähler, die ihre unliebsamen, aber politisch brisanten Fragen den Politikern stellen, werden von ihnen in den seltensten Fällen ernst genommen… Statt sachlicher Argumente, statt Diskussion und Information wechselt Polemik mit Attacken und Angriffen… So steht heute, einen Tag vor der Wahl, die Jugend vor einem geistigen Zwiespalt: entweder eine der drei etablierten Parteien zu wählen oder ins extremistische Lager abzuwandern. Sie wird zähneknirschend eine der demokratischen Parteien wählen.“ (So kam es dann auch: Willy Brandt wurde der erste sozialdemokratische Bundeskanzler und löste Kurt Georg Kiesinger ab).
Doch dieser politische „Misserfolg“ beflügelte uns, verstärkt entwicklungspolitisch tätig zu werden.
Infoarbeit im Advent
An den 3 Dezembersamstagen vor Weihnachten informierten wir die Bevölkerung vor der Jakobikirche in Hildesheim mit dem Flyer „Allen Menschen Zukunft – Gerechtigkeit statt Almosen“ über die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Nationen und stellten unser Entwicklungsprojekt Cecilio Baez in Paraguay vor, in dem Bruder Gotthard Röttger von den Franziskanerbrüdern tätig war. Das Missionshaus Bamberg hatte uns dafür als Blickfang ausgestopfte Tiere, Masken, Werkarbeiten, Geräte und Bilder aus Paraguay zur Verfügung gestellt. Zur Finanzierung des Projektes verkauften wir insgesamt 200 kg Erdnüsse und erlösten einen Reingewinn von 701 DM. Wir erzielten eine große Resonanz. HAZ und Hildesheimer Presse berichteten ausführlich und in vielen Kirchen wurde auf unsere Aktion hingewiesen. Im Jugendmosaik der HAZ erschien am 20. Dezember mein Statement zu dieser für Hildesheim ungewöhnlichen Aktion „Wir müssen Beitrag zum Frieden leisten.“ Der Kreisjugendring Hildesheim- Marienburg bezuschusste die Materialkosten für die Ausstellung und die 10.000 Flyer. Die Ausstellung wurde danach noch in der Pädagogischen Hochschule Braunschweig (dort studierte ich damals) sowie in Kirchengemeinden in Peine und Holzminden gezeigt. Mehrere kirchliche Jugendgruppen forderten unseren Flyer für ihre Bildungsarbeit an.
Diese positive Resonanz gab uns Auftrieb. Ende Mai 1970 führten wir in den 40 Dörfern des Stiftes Hildesheim die erste Altkleidersammlung durch. An 5 Tagen trugen wir mehr als 28 t Altkleider zusammen und erzielten einen Erlös von 8.468 DM. Nach Abzug der Kosten blieben ca. 7.800 DM übrig.
Mit dem ersten Gehalt: Reise nach Paraguay
Am 1. Juni 1970 begann ich meine Lehrertätigkeit an der Mittelpunktschule Borsum Mit meinem ersten Gehalt finanzierte ich in den Sommerferien meine fünfwöchige Reise nach Paraguay. Dort besuchte ich zunächst Bruder Gotthard Röttger und Michael Apel aus Algermissen, der ihn seit dem Frühjahr in dem Entwicklungsprojekt Cecilio Baez unterstützte. Für deren Arbeit sowie für die beiden weiteren Sozialprojekte der Franziskanerbrüder in Coronel Oviedo und Benjamin Aceval im Chaco mit dem Schulprojekt und der Indianermission konnte ich vom ökumenischen Arbeitskreis 2.500 DM zur Verfügung stellen. Außerdem lernte ich die deutsche Krankenschwester Elisabeth Bretschneider kennen, die gerade unter einfachsten Verhältnissen eine „Farmacia“ für arme Campesinos und Indios in Ocampos am Rande des Urwalds aufgebaut hatte und auf finanzielle Hilfe angewiesen war. So kehrte ich mit zahlreichen Eindrücken und Ideen von meiner ersten Lateinamerika Reise zurück.
Bereits im Frühjahr hatten wir den Franziskanerbrüdern zugesagt, einen VW Transporter vor allem für die Jugendarbeit in Cecilio Baez zu finanzieren. Den Arbeitskreismitgliedern Entwicklungshilfe stellte ich am 5. August das Projekt Ocampos vor und wir beschlossen, auch diese Farmacia zu unterstützen. Die Bezirksstelle Hildesheim der Ärztekammer leitete im September unseren Aufruf mit der Bitte um Medikamenten- und Instrumentenspenden für Ocampos an ihre Mitglieder weiter und schon im Oktober konnten wir zahlreiche Sachspenden entgegennehmen.
Aktion Altkleidersammlung
Aufgrund des grandiosen Erfolges führten wir in den Herbstferien im gesamten Landkreis in mehr als 80 Orten mit Unterstützung der Landjugend die zweite Altkleidersammlung durch. Diesmal erzielten wir fast 26 t Kleidung sowie 2 t Papier. Der Erlös betrug 7.420 DM, die Kosten lagen aber höher, so dass knapp 6.000 DM übrig blieben. Außerdem wurde in Algermissen und Borsum guterhaltene Kleidung von Jugendlichen für den Versand nach Paraguay sortiert.
Im Oktober wurde dann die VW Doppelkabine mit der erforderlichen Zusatzausrüstung für Paraguay (verstärkte Stoßdämpfer, staubgeschützte Ansaugung der Kühlluft, 12 Volt Batterie etc.) von Hamburg nach Santos verschifft und von dort durch Brasilien bis nach Asuncion in Paraguay weitergeleitet. Durch Vermittlung von Prälat Holling aus Wolfsburg wurde uns die 11% Mehrwertsteuer nicht berechnet und wir erhielten noch 10 % Rabatt. So kostete der VW Transporter mit See- / Landfracht und Versicherung 10.280 DM. Am 11. November folgten dann die 50 Sack Gebrauchtkleidung und 5 Kisten mit Medikamenten für die 3 Franziskanerstationen und für die Farmacia in Ocampos.
So konnten wir im ökumenischen Arbeitskreis 1970 auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken und erhielten Zuspruch und Unterstützung von vielen Seiten: vom Kreisjugendring, Kirchengemeinden und der Presse, aber vor allem aus Algermissen von Dr. Winfried Ludewig und Familie Apel.
Spenden reichen nicht aus – Arbeitsbedingungen müssen sich ändern
Zu diesem Zeitpunkt konzentrierte sich unser Engagement noch ganz auf die Hilfe durch Spenden, doch bereits im folgenden Jahr nahmen wir auch den fairen Handel in den Blick. Die Idee dazu entstand u.a. am ersten Adventswochenende in der Jugendbildungsstätte Haus Wohldenberg. Dort boten wir vom Vorstand der kath. Jugend des Bistums Hildesheim (ich gehörte zum Diözesanleitungsteam von 1969 – 1972) den Kurs Aktion „Kritische Weihnacht“ für Jugendliche im Bistum Hildesheim an. Wir suchten nach Alternativen zur Konsumorgie, zu der das christliche Weihnachtsfest abzugleiten drohte, um sie in den Kirchengemeinden zu thematisieren. Auch informierte ich über die Arbeit unseres Arbeitskreises Entwicklungshilfe. Dabei wurde uns bewusst, dass Spenden allein nicht ausreichen um die Welt menschenwürdiger und gerechter zu gestalten, die Arbeitsbedingungen mussten grundlegend geändert werden. Ein Impuls, uns für den fairen Handel zu engagieren!
Thorsten: Richard, vielen Dank für Deinen Rückblick in die ersten Aktivitäten und die damaligen Herausforderungen. Heute steht die Welt vor einer neuen, ganz anderen Herausforderung: „Corona“ führt dazu, das weltweit Lieferketten nicht mehr (einwandfrei) funktionieren, der Absatz von nicht lebensnotwendigen Produkten im stationären Handel vorübergehend zum Erliegen kam und die Menschen angstvoll und besorgt in die Zukunft blicken. Die heimische Wirtschaft leidet. Besonders betroffen sind kleinere Betriebe und der Mittelstand. Es gibt vermehrt Stimmen, die fordern, dass man wieder verstärkt regional produzieren und einkaufen solle. Gleichzeitig boomt der Internethandel. Wäre es in einer solchen Situation nicht verständlich, wenn sich die Menschen vom überregionalen fairen Handel, wie ihn u.a. El Puente betreibt, nicht zuletzt auch wegen des höheren Preises abwenden? Oder rückt durch den regionalen Blickwinkel – verbunden mit der Frage „Was brauchen wir wirklich?“ – auch der faire Handel viel stärker in das Bewusstsein? Ergänzend bitte ich Dich um eine Antwort zur Frage: „Warum sollte man jetzt den vor 50 Jahren begonnenen fairen Handel unterstützen?“
Richard: Da stellst Du aber knifflige Fragen. Da ich kein Prophet bin, kann ich nur meine Einschätzung abgeben. Trotz der gerade wilden Verschwörungstheorien mancher Zeitgenossen glaube ich an die Vernunft und den guten Willen der meisten Menschen. Aufgrund der notwendigen Einschränkungen durch Corona besinnen wir uns wieder mehr auf das Wesentliche. Worauf kommt es im Leben wirklich an? Ist der Massenkonsum bei der Ernährung (täglich Fleisch), der ständig wechselnden Mode und dem häufigen Reisen in ferne Länder wirklich lebensnotwenig – gerade auf Kosten der Ärmsten, der Umwelt und zukünftiger Generationen? Wäre nicht mehr Bescheidenheit und Rückbesinnung auf soziale Werte angesagt?
Als Optimist glaube ich, dass bio, fair und regional an Zuspruch gewinnen werden. Die zahlreichen Corona Infektionen der ausgebeuteten Osteuropäer in der Fleischindustrie machen deutlich, dass nicht nur die Menschen in den Ländern des Südens erbarmungslos wie Arbeitssklaven missbraucht werden. Das sollte uns alle in Deutschland beschämen!
Solidarisch handeln!
Gerade jetzt sollten wir solidarisch handeln und die besonders durch unsere Kaufkraft unterstützen, die durch die Corona Krise in ihrer Existenz bedroht sind – hier vor Ort und weltweit. Denn unsere Produzent*innen sind noch viel härter betroffen, bei ihnen geht es um die nackte Existenz. Für sie gibt es überhaupt keine soziale Sicherheit. Deshalb hat EL PUENTE eine Corona Soforthilfe von 1.000 € pro Partnerorganisation aus dem Entwicklungsfonds und Vereinsspenden zur Verfügung gestellt. Bislang wurden 51 Anträge von Handelspartnern bewilligt und somit mehr als 50.000 € überwiesen. Mit der Förderung leisten die Partner einen Beitrag zur Sicherung der Grundbedürfnisse von Produzenten*innen und Mitarbeiter*innen.
Wer an dieser Stelle mithelfen möchte, ist herzlich eingeladen einen Betrag an das Spendenkonto des EL PUENTE e.V. unter der IBAN Nr. DE79 2595 0130 0000 0370 02 unter dem Stichwort „Corona Soforthilfe“ zu überweisen.
Thorsten: Was glaubst Du? Wie wird sich Corona auf den fairen Handel langfristig auswirken? Werden wir dauerhaft mehr regionale Produkte nachfragen? Oder wird es relativ zeitnah eine Rückkehr zu alten Mustern geben bzw. der Internethandel weitere (nicht faire) Marktanteile gewinnen? Was ist Deine Empfehlung im Hinblick auf die weitere Ausgestaltung des fairen Handels im Allgemeinen sowie bezogen auf die regionale Ausrichtung?
Richard: Unter der Corona Krise ist bei EL PUENTE der Umsatz um ein Drittel eingebrochen, da vor allem kleine Weltläden wegen der hohen Ansteckungsgefahr der vielen älteren Ehrenamtlichen geschlossen worden sind. Während der Lebensmittelumsatz nur leicht zurückgegangen ist, waren Handwerksprodukte kaum noch nachgefragt. Erfreulicherweise verdreifachte sich der Online Verkauf an Endverbraucher. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass EL PUENTE schon vor Corona Zeiten mit dem Programm click & collect die Anbindung des stationären Handels (Weltläden) an den online Handel (direkt mit Verbrauchern) gestärkt hat.
Click und Collect in Zeiten von Corona
Dies bedeutet, dass die Endkunden in Corona Zeiten direkt von der EL PUENTE Zentrale beliefert, die Rabatte aber dem gewünschten Weltladen gutgeschrieben wurden. Der stationäre Handel der Weltläden braucht eine enge Verbindung zum online Handel, um zukunftsfähig zu bleiben. Auch wenn die Gefahr besteht, dass einige ehrenamtlich geführte Weltläden nicht wieder öffnen werden, besteht dennoch die Chance, dass insgesamt der faire Handel gestärkt aus der Corona Krise hervorgehen wird, da viele Menschen zukünftig nachhaltiger und bewusster handeln werden. Hier kann der online Handel sogar ein Segen sein.
Service der Weltläden ist zentral für die Kundenbeziehung
Weltläden werden als Fachhandel immer wichtiger für die Pflege der Beziehung mit den Kunden, für Orientierung und neue Entwicklungen, denn es gibt auch ein zunehmendes Interesse an Nachhaltigkeit. Regionalität steht verstärkt im Focus, gerade weil die Corona Pandemie auch globalisierungskritisch gesehen wird. Der globale Austausch zu fairen Bedingungen steht aber meines Erachtens nicht in Frage. Wir werden uns aber enger mit nachhaltigen Fragen der Herstellung (z.B. Recycling, Upcycling) und der Beschaffungswege (umweltfreundlicher Transport, umweltfreundliche Lieferketten) befassen müssen.
Thorsten: Richard, vielen Dank für Deine heutigen Ausführungen. Ich bin schon jetzt auf den nächsten Bericht gespannt.