Was bedeutet „existenzsichernd“ und wo stehen wir im Fairen Handel?
Was ist ein Living Wage?
Existenzsichernde Löhne werden derzeit viel besprochen – nicht nur im Fairen Handel. Doch, was genau ist eigentlich ein Living Wage? Hierbei werden alle Kosten einbezogen, die eine Familie braucht, damit ihre Existenz gesichert ist. Das heißt nicht, dass die Familie damit in Saus und Braus leben kann, sondern dass die elementaren Bedürfnisse gedeckt und darüber hinaus noch Rücklagen für unvorhergesehene Ereignisse gebildet werden können. Was bedeutet das genau? Ein existenzsichernder Lohn oder Living Wage deckt eine ausgewogene Ernährung, Kosten für Wohnen, Kleidung und die Gesundheitsversorgung ab, aber auch Ausgaben für Mobilität und Bildung.
Warum ist ein Living Wage wichtig?
Bei El Puente zahlen wir im Kunsthandwerk von den Produzent*innen kalkulierte Preise. Denn sie sind die Expert*innen sowohl für die Kosten, die für Rohstoffe und Arbeitszeit anfallen, aber auch für ihre Lebenshaltungskosten. Ein kalkulierter Living Wage bietet eine Bestätigung dieser Annahmen für eine Region oder stellt diese in Frage. Weil Lebensrealitäten verschiedener Familien in einem Gebiet einbezogen werden, birgt die Berechnung wichtige Chancen über unsere eigenen Lieferketten hinaus. Lägen diese Daten für alle Akteure im Fairen Handel vor, könnten diese genutzt werden, um wirtschaftliche und politische Akteure zu konfrontieren und entsprechende Forderungen zu stellen.
Wie funktioniert die Berechnung der World Fair Trade Organization (WFTO)?
Es gibt verschiedene Methoden einen Living Wage zu berechnen. Die WFTO hat für die Berechnung eine Werkzeugkiste gepackt. Ihr Anspruch: Die Werkzeuge sollen für alle Fairhandels-Akteure entlang der Lieferkette handhabbar sein. Der Living Wage errechnet sich mit dem Tool, der „Living Wage Ladder“ aus einer breiten Datengrundlage. Dazu gehören beispielsweise der aktuelle Mindestlohn, die Armutsgrenze, aber auch vergleichbare Löhne bei anderen Arbeitgebern in der gleichen Region. Ein weiteres Werkzeug mit dem gerechnet wird, ist ein Warenkorb. Wie beim Einkaufen werden hier Lebensmittel und ihre Nährwerte in einem gesunden Verhältnis und einer regional passenden Ernährung eingetragen. Ein drittes Werkzeug sind die Local Context Notes, die ergänzende Hinweise auf lokale Gegebenheiten beinhalten. Hier lässt sich ablesen, ob die politische Situation stabil ist oder ob es um eine Region geht, in der es häufig zu Überschwemmungen kommt. Vorformulierte Kriterien und Umstände können nach Bedarf durch individuelle Anmerkungen ergänzt werden. Zusammen kann aus den Ergebnissen dieser verschiedenen Werkzeuge ein Living Wage berechnet und abgelesen werden. Ganz wichtig: Die Ergebnisse werden hinterher mit den Mitarbeiter*innen besprochen und entweder von ihnen bestätigt oder noch einmal angepasst.
Was passiert mit den Ergebnissen?
Die Ergebnisse sind der erste Schritt, um mit anderen Akteuren entlang der Lieferkette – also mit unseren Handelspartnern in den Austausch zu gehen. Gemeinsam schauen wir, wie eine Preiskalkulation aussehen kann, damit ein existenzsichernder Mindestlohn für alle Fairhandels-Organisationen entlang der Lieferkette erfüllt ist. Dafür ist wichtig, dass die Materialkosten gedeckt sind und der Preis des Produkts vom Markt auch akzeptiert wird. Im Dialog können wir zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Fall Nr. 1: Wir sehen, dass alle Akteure mit den Produkten, die ver- oder gekauft werden, auf einen existenzsichernden Lohn kommen. Dann sehen wir den Living Wage für alle als bestätigt an. Fall Nr. 2: Wir sehen, dass die Produzent*innen noch keinen Preis für ihr Produkt erhalten, der ihnen einen lokalen Living Wage ermöglicht. Dann sind alle Akteure entlang der Lieferkette gefragt. Alle prüfen: Wo können Kosten eingespart werden? Kann der Preis des Produkts angehoben werden, sodass ein existenzsichernder Lohn für alle erreicht wird?
Wo stehen wir aktuell?
Bereits 2019 haben wir einen Living Wage für die Mitarbeiter*innen von El Puente berechnet. Doch die Corona-Pandemie hat das Projekt ausgebremst. Denn für den Dialog zu einem derart sensiblen Thema ist der direkte Austausch fast unabdingbar. Reisetätigkeiten werden jetzt langsam wieder aufgenommen und Prioritäten gemeinsam mit den Partnern gesetzt. Dann gilt es auch, an diesen Prozess wieder anzuknüpfen.
Neue Herausforderung: Living Income
Jetzt fragen sich bestimmt einige von Euch: Was ist denn mit den landwirtschaftlichen Produkten? Hier erhalten die Produzent*innen doch gar keinen klassischen Lohn? Auch diese Diskussion ist bereits seit einer Weile im Gange. Die Herausforderungen sind ähnlich, aber in die Berechnung müssen mehr Faktoren einbezogen werden: Wie setzt sich das Haushaltseinkommen zusammen? Wird Gemüse für den Eigenbedarf angebaut? Oder auf dem lokalen Markt verkauft? Trägt ein im Ausland lebendes Familienmitglied zum Einkommen bei? Und was verdienen die Bäuer*innen mit dem Verkauf der Produkte in den Fairen Handel? Neben den Berechnungen zum Living Wage wird dies eine weitere Herausforderung. Eine Arbeitsgruppe der WFTO arbeitet derzeit zu diesem Thema.
Mehr Transparenz und intensive Dialoge
Große Chancen, die in den Berechnungen liegen: Es kann noch transparenter nachvollzogen werden, auf welcher Basis Preise entstehen. Die Ergebnisse bieten eine neue Grundlage für intensive und spannende Dialoge mit unseren Partnern. Letztendlich wirft uns dieses Thema wieder auf die Frage zurück: Welche Kosten stecken hinter einem Produkt, wenn es nicht auf Kosten anderer produziert wird? In den Handelspartnerschaften von El Puente werden seit jeher die Perspektiven der Partner und gängige Mindestpreise und Prämien berücksichtigt. Eine weitaus größere Herausforderung ist die Frage nach Living Wage und Living Income für den konventionellen Handel, wo die Preise für Produkte manchmal nicht einmal die Produktionskosten decken.